Prosa 1

aus:

Sie

Sie ist wieder da.

Sie sitzt auf der Bettdecke, auf meiner Brust. Starrt vor sich hin. Schauen ohne Blick. Körper, Blick ohne Bewegung. Schwerelos der geflügelte Panzer. Reglos die Greifzangen. Sie hat ihren Dienst angetreten, ihren Wachposten bezogen, stumm und unerschütterlich. Sie versteht mich nicht , spricht meine Sprache nicht. Ich bin ihr fremd.

Sonst würde ich fragen: Was willst du von mir?

Oder ich würde sagen: Geh weg!

Aber das würde sie nicht tun. Sie ist dazu da, mich zu belagern, zu belauern. Ihr Panzer schimmert wie eine Rüstung Sie hält mich als ihre Gefangene . Ihr kantiger Schädel ist unzerstörbar. Ihre Adern sind ohne Blut. Mein Herz klopft. Sie wird größer werden, ihre Macht wird sich ausbreiten, schließlich wird das ganze Zimmer erfüllt sein von ihrem Schweigen, einem allmächtigen Schweigen. Ich darf es nicht zulassen. Dass ich immer unscheinbarer werde , immer kleiner. Ich muss entkommen. Riskieren, dass sie mir hinterher setzt, mich attackiert, erneut gefangen nimmt. Ich muss es wagen. Die Decke wegschleudern. Aus dem Zimmer laufen, ohne mich umzuschauen. Zum Großvater laufen. Mich auf seinen Schoß setzen. Seinen Stoppelbart berühren. Sein Kinn in meiner Hand spüren. Ihn sagen hören: “Ich bin nicht rasiert.“ Ihm eine Zigarette in den Mund stecken. Ihm die Streichhölzer reichen. In den Rauchkringeln verschwinden. Mit dem Rauch Kreise in der Luft ziehen. Hoffen, dass schon später Nachmittag ist. Die Großmutter schon aufgewacht ist, ihren Nescafe getrunken hat. Das Radio schon an ist. Dämmerung in der Luft liegt. Sie sitzt ruhig auf mir. Sie bewegt sich nicht. Ich mich auch nicht. Ich hätte wissen müssen, dass sie auf mich wartet. Gleich, gleich werde ich es schaffen. Ich muss meine Kräfte zusammennehmen, ich muss an den Großvater denken. Eintauchen in seine wasserblauen Augen. Er wird mir Gedichte vorlesen . Der König wird mit seinem Heer durch die Wüste marschieren, sie werden nichts zu essen haben, vielleicht verhungern und verdursten sie. Dieser Marsch durch die Wüste wird sehr lang sein.

Nachher wird die Schrift an der weißen Wand erscheinen, und der König in seinem Palast wird erzittern. Es wird ihm nichts nützen, die Schrift ist mächtiger als er, er wird umkommen. Es ist nicht schade um ihn, er hat dieses Schicksal verdient.

Die Dämmerung wird kommen, ganz langsam, die Luft wird sich mit Rauch füllen.

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