Prosa 4

aus:

Kleine Texte

II

Mitleid

Die Bettlerin will dein gutes Herz. Doch: einmal an den Strähnen des Mitleids gepackt, wirst du dich nicht mehr befreien können. Die Zähne fehlen ihr schon! Ihr Gewand ist zerschlissen! Ihre Schuhe durchlöchert! Nun bist du dran. Zahn, Gewand und Schuh sein. Dir fehlt ja nichts! Jung und unbekümmert springst du durch die Welt. Du lachst, dass deine weißen Zähne blitzen. Jetzt stellt das Leben dich auf die Probe. Die Bettlerin will dich. Sie wird dich verschlingen und nicht satt werden. Deine süße Jugend wird sie aufzehren- ein wenig röten sich schon ihre Wangen – und mit dem Verlust deiner Kraft beginnst du die Schuld zu spüren, schön und kräftig zu sein. Deine Jugend ist die Milch der Armut. Bald wirst du nichts mehr haben, nur noch dein tapfer schlagendes Herz. Auch das Herz wird bald preisgegeben sein. Der Himmel lässt dich gewähren, er ist grenzenlos wie du.

 

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